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Hartwig Berger, Berlin

Mehr Grün in den Strahlenschutz

Vorlage aus Anlaß des Fachgesprächs der Bundestags-Fraktion
zur Strahlenschutz-Verordnung (StrSchSV, im folgenden kurz: SSV), 12.4. 2000


Der vorliegende Entwurf des BMU zur Novellierung der Strahlenschutz-Verordnung sorgt für die längst überfällige Umsetzung der EURATOM-Richtlinien von 1996 und 1997 in deutsches Recht. Nur in wenigen Punkten nutzt der Entwurf allerdings den Spielraum der Richtlinie, auch strengere nationale Schutzvorschriften zu erlassen. Insgesamt verbessert sich das Niveau des Strahlenschutzes, da die Vorgaben der EURATOM auf den Erkenntnissen der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICR) von 1990 (Stand der Wissenschaft von ca. 1985) beruhen.

Der zuvor teils deutliche Abstand im deutschen Strahlenschutz gegenüber anderen EU-Ländern verringert sich. So sinkt die Europa-Norm der zulässigen jährlichen Ganz-Körper-Dosis von bisher 5 Millisievert(mSv) auf 1 mSv, in Deutschland von bisher 1,5 mSv auf 1 mSv. In den erstmals getroffenen Regelungen zur Freigabe radioaktiver Stoffe in den allgemeinen Abfall- und Verwertungs-Kreislauf fällt Deutschland sogar teilweise hinter Länder wie Großbritannien zurück. Als Arbeitsergebnis eines Grün geführten Ministeriums ist das schwer bis überhaupt nicht zu vertreten.

Die entscheidende Schwäche des BMU-Entwurfs ist die Tatsache, daß die neuesten Erkenntnisse über die Risiken radioaktiver Niedrigstrahlung - die stochastische Schädigung lebender Zellen - nicht Eingang in die SSV gefunden haben. Die SSV ist auf dem Stand der Wissenschaft der 80er Jahre, Forschungsergebnisse der 90er Jahre, die höhere Risikofaktoren insbesondere für Krebsentstehung, ermitteln, finden keinen Eingang.

Diese Feststellung bestreiten auch "konservative" Mitglieder der Strahlenschutz-Kommission(SSK) nicht, halten jedoch die neuesten Erkenntnisse noch nicht für zureichend validiert; außerdem verweisen sie - wie jeher - auf die Risiken der weit höheren natürlichen Strahlung. Daß es kein Nullrisiko gibt, wird allerdings zugegeben.

Ich halte es für nicht hinnehmbar, wenn Grün in Regierungsverantwortung sich dem Vorwurf aussetzt, die neuesten Erkenntnisse der Risikoforschung nicht zu berücksichtigen. Haben doch gerade Grüne PolitikerInnen Jahre und Jahrzehnte davor gewarnt, die Gefahren radioaktiver Niedrigstrahlung zu verharmlosen und zu vertuschen. Wenn jetzt die Forschung unsere Warnungen nachträglich bestätigt, müssen wir auch alles daransetzen, diese Erkenntnisse in den Strahlenschutz Eingang finden zu lassen.

Selbst wenn es in der wissenschaftlichen Risiko-Abschätzung unaufhebbare Differenzen gibt, muß der Strahlenschutz sich am übergeordneten Verfassungsauftrag orientieren, der Leben und Gesundheit aller im Gemeinwesen lebenden Menschen zu einem vorrangigen Schutzgut staatlicher Politik erklärt. Im Zweifelsfall muß demnach der Staat in Umsetzung des Vorsorgeprinzips immer für die sichere Seite optieren, um dem Schutzauftrag Genüge zu tun. Es muß dann für "möglicherweise zu viel" statt " vielleicht zu wenig" Strahlenschutz entschieden werden. Gerade Grüne Politik darf diese politische Handlungsmaxime nicht aufgeben. Dies um so weniger, als in der ganzen Geschichte des Strahlenschutzes mit fortschreitenden Erkenntnissen Grenzwerte immer wieder gesenkt werden mußten, weil man die Risiken unterschätzt, dagegen nie überschätzt hatte.

Eine zweite Kritik, die vor allem der BUND gegen den SSV-Entwurf vorträgt, sind die Regelungen zur Freigabe radioaktiver Stoffe. Wann ist es zulässig, Stoffe und Gegenstände, die direkt oder indirekt mit Strahlungsvorgängen in Berührung gekommen sind, dennoch wie normalen Abfall oder wie normales Material zu betrachten und zu behandeln?

Einige BUND-VertreterInnen plädieren für ein Totalverbot jeglicher Freigabe. Dagegen überzeugt die Argumentation des BMU: Seit Jahrzehnten haben die Bundesländer einen breiten Ermessensspielraum, weitgehend unbelastetes Material aus dem besonders kontrollierten Umgang mit radioaktiven Stoffen auszusortieren. Die neue SSV engt diesen Spielraum ein und schafft eine bundeseinheitliche Regelung.

Ein Totalverbot der Freigabe wäre wegen der Zustimmungspflicht der Länder überhaupt nicht durchsetzbar; außerdem würde sie den jetzt als "strahlenbelastet" klassifizierten Müll um ein Vielfaches anwachsen lassen, ohne daß diese Sortierung durch reale Risiken gedeckt ist. Irgendwann schlägt dann die sehr strikte Sorge um Strahlenschutz in ein Programm zielloser Müllvermehrung um, daß wir aus umweltpolitischer Sicht ablehnen.

Voraussetzung einer vertretbaren Freigabe sind allerdings ein gutes Kontrollsystem, strenge Grenzwerte und ein rigides Verdünnungsverbot.

Eine Verdünnung radioaktiver Stoffe, wie sie noch der alte Entwurf der SSV von 1998, aus der Kohl-Ära, vorsah, schließt die neue SSV aus. Die ärgerlichen, da nicht gegengeprüften Vorwürfe hat der BUND hier zurücknehmen müssen. Ein Streitpunkt bleiben dagegen die Grenzwerte. Unbestritten ist hier wohl der Vorzug der SSV, daß die Grenzwerte für die einzelnen Nuklide aus der Dosisbelastung abgeleitet werden; es werden also durch schwierige Modelle und Rechenverfahren die tatsächlichen Belastungspfade für Mensch und Umwelt berücksichtigt, nicht die bloße (in Becquerel gemessene) Menge radioaktiver Zerfallsprozesse eines Stoffes.

Wegen dieser unterschiedlichen Herangehensweise sind direkte Vergleiche der deutschen mit etwa den englischen Freigabewerten oberflächlich und irreführend. Dennoch müssen die Fachleute zugeben, daß ein großer Teil der englischen Freigabe-Werte strenger gefaßt ist.

Ein deutscher Rückstand im Freigaberecht ist aus Grüner Sicht nicht zu rechtfertigen. Wir sollten uns deshalb für entsprechende Korrekturen im SSV-Entwurf einsetzen.

Ein klares Positivum des SSV-Entwurfs ist die Senkung des Störfall-Planungswerts (SPW), von bisher 50 Millisievert(mSv) auf jetzt 20 mSv. Der Unbegriff "SPW" ist von besonderem Interesse für die AKW-Debatte. Er legt fest, daß bei bestimmten Auslegungs-Störfällen in der äußeren Umgebung einer kerntechnischen Anlage höchstens eine Strahlungsdosis von 20 mSv auftreten darf. Der Super-GAU einer Kernschmelze findet dabei "selbstverständlich" keine Berücksichtigung.

Der neu festgelegte SPW wird die Planung des europäischen Druckwasserreaktors in Deutschland blockieren, allerdings macht er die Schließung bestehender AKWs aus sicherheitstechnischen Gründen nicht erforderlich. Zur Aufrechterhaltung des bestehenden Schutzniveaus wäre es allerdings geboten, die Risikoabschätzungen mindestens der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) von 1990 zu beachten. Da sie um das Vierfache über den zuvor angenommenen Ergebnissen liegen, muß der SPW konsequenterweise auf 12,5 mSv - statt bisher 50mSv - gesenkt werden.

Ein weiterer Grüner Erfolg ist, daß die SSV gegenüber früheren Entwürfen die Werte für organspezifische Dosen beibehält. Der differenzierten Belastungsgefahr einzelner Körperorgane - wird also Rechnung getragen.

Ein entscheidender Faktor für die Verabschiedung einer SSV ist ihre Zustimmungspflichtigkeit im Bundesrat. Eine wirklich Grüne Verordnung wird gegen die Mehrheit der CDU-regierten Länder nicht durchsetzbar sein. Diese Länder werden vielmehr alles daransetzen, um jetzige Verbesserungen, die über die Mindestvorgaben der EURATOM-Richtlinie hinausgehen, zurückzudrehen. Auch ist ein Verschieben und Verzögern der Entscheidung nicht sinnvoll, da Deutschland schon jetzt die Zeitleiste der EU überschritten hat. Der 13. Mai 2000 gilt als der letzte Termin, ab dem die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens befürchtet werden muß.

Der BUND hat Anfang April gefordert, daß der Umweltminister den Entwurf der SSV zurückziehen möge. Dieses Ansinnen ist kontraproduktiv und nicht durchdacht. Es verkennt die europäischen Zeitzwänge und übersieht den engen Handlungsrahmen, der dem Bundesministerium durch die Mitzeichnungsrechte etwa des Wirtschaftsministers und vor allem die politischen Mehrheiten im Bundesrat gesteckt sind. Aufgrund dieser Machtfaktoren wird es in Deutschland einen Strahlenschutz "Grün pur" nicht geben.

Doch gerade wegen dieser harten Handlungs- und Zugzwänge ist es wichtig, im Strahlenschutz mehr Grünes Profil zu zeigen. Selbst wenn wir Vieles nicht durchsetzen, müssen wir desto erkennbarer für einen deutlich verbesserten Strahlenschutz kämpfen. Wir sollten uns daher nicht in pragmatischer Selbstbescheidung üben, sondern mehr mit eigenen Grünen Verbesserungsvorschlägen "Flagge zeigen". Damit fallen wir dem Umweltminister keineswegs in den Rücken. Denn Solidarität mit den Regierungsbeteiligten heißt gerade nicht, ihre unstrittigen Handlungszwänge als selbst auferlegte Denkverbote mit zu vollziehen.

Sowohl in den Ländern wie auf Bundesebene sollten wir daher in folgender Zielrichtung arbeiten:

1.
Ausgehend von den Erkenntnissen der Internationalen Strahlenschutzkommission Mitte der 80er Jahre, die ihren Ausdruck im Report "ICRP 60" von 1990 gefunden haben und die zu einer vierfach höheren Risikobewertung führten, ist eine Senkung aller Grenzwerte der SSV geboten.

Das ist nur teilweise und nicht in der gebotenen Höhe gegenüber den alten EURATOM-Normen geschehen. Um also das Schutzniveau des deutschen Strahlenschutzes - vergleichbar zum EURATOM-Niveau - aufrechtzuerhalten, sind die Grenzwerte der SSV von 2000 gegenüber der Verordnung von 1989 um einen Faktor vier anzupassen.

Das gilt beispielsweise auch für das unverändert gebliebene sog. 30 Millirem ( bzw. 0,3 mSv)-Konzept, das in der Atomenergienutzung die größte praktische Bedeutung hat.


2.
Nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis der 90er Jahre müßten die Grenzwerte der Strahlenbelastung, für die allgemeine Bevölkerung wie für die Beschäftigten im Umgang mit Radioaktivität, weiter reduziert werden. Die Grenzwerte der SSV sind demnach um mindestens das Fünffache, wenn nicht das Zehnfache, weiter zu senken.

3.
Die Regelungen für die Freigabe sind so zu fassen, daß mindestens die Standards in Großbritannien immer erreicht werden. Das 10MikroSievert-Konzept ist als Grenzwert statt als Richtwert zu formulieren, der aus der Summe aller Freigaben für eine einzelne Person nicht überschritten werden darf.

4.
Der Arbeitsschutz für Schwangere und für Frauen unter 18 Jahren darf nicht aufgeweicht werden, d.h. das Tätigkeitsverbot in Kontrollbereichen muß beibehalten werden.

5.
Die Senkung des Störfall-Planungswerts( möglichst auf 12,5 mSv) und die organspezifischen Dosiswerte müssen mit aller Kraft verteidigt werden. Die sich zäh dahinschleppenden Ausstiegsverhandlungen können durch einen solchen Vorstoß nur belebt werden. Die Chance, die undurchsichtige Fachdiskussion um den Strahlenschutz durch Folgerungen für die Ausstiegsdebatte aktuell und begreiflich zu machen, dürfen wir nicht verstreichen lassen.

6.
Die politischen Mehrheiten im Bundesrat sind ein mächtiges Hindernis für verbesserten Strahlenschutz. Eine wirklich gute SSV wird wohl an der atomfreundlichen Fronde in den Bundesländern scheitern: da sollten sich weder Grüne noch Umweltverbände irgendwelche Illusionen machen und keine falschen Nebenfronten aufmachen.

Dennoch bleibt es wichtig, den Konflikt mit den AtomfreundInnen in der Politik zuzuspitzen und öffentlich erkennbar zu machen: wer setzt sich für mehr Strahlenschutz ein, und wer opfert diesen auf dem Altar der Atommafia? Ein Grün geprägter Entwurf der SSV darf daher nicht den Kompromiß mit der rechten Mehrheit im Bundesrat voraus denken, damit wird ein wichtiger politischer Konflikt verwischt und geht das Grüne Profil durch vorauseilende Anpassung verloren.

Hartwig Berger, Berlin
MdA und Sprecher des Energiepolitischen Ratschlags der Grünen Landtagsfraktionen

Berlin, 18.04. 2000

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