Artikel aus der taz
vom 31.01.2003
HARTWIG BERGER
Euratom gehört zur Umweltpolitik
In der EU gibt es längst keine Mehrheit für eine atomfreundliche
Industriepolitik mehr. Der Europäische Konvent sollte die vorgestrige
Technologie auch formell begraben
Selbst die härtesten Nuklearfans behaupten heute nicht mehr, dass
Kernspaltung die Energiequelle des 21. Jahrhunderts sei. Die deutschen
Atomkonzerne konnten sich deshalb gut und gern auf den Atomkonsens mit
der
Bundesregierung einlassen. Ein Neubau von AKWs rechnet sich ohnehin
nicht; viel wichtiger war da die staatliche Garantie, Atomanlagen, die
ihre Herstellungskosten bereits eingefahren haben, vorerst weiter betreiben
zu dürfen.
1957 hingegen, als die Europäische Atomgemeinschaft ("Euratom")
gegründet wurde, war die Kernspaltung noch die Energiequelle der
Zukunft. Die Nuklearindustrie zu entwickeln galt als direkte Aufgabe
des Staates, der ihr entweder durch milliardenschwere Zuwendungen -
in Westdeutschland - oder durch direkte Staatsbetriebe - so in Frankreich
- auf die Beine zu helfen versuchte.
Für die Nuklearmächte England, Frankreich und die Vereinigten
Staaten war die Förderung der Atomkraftnutzung in Deutschland und
Italien eine zweischneidige Sache. Sie stellten die neue Technologie
damit nämlich zwei Ländern zur Verfügung, deren faschistische
Regime sie erst zehn Jahre zuvor blutig niedergekämpft hatten.
Besonders die USA verlangten eine sichere Barriere gegen eine militärische
Nutzung. So verfolgte Euratom zwei Ziele: einerseits die neue Technologie
durch staatliche Zusammenarbeit und Subventionierung zu fördern
und andererseits eine militärische Nutzung zu verhindern.
Wer der Europäischen Union beitritt, wird auch Euratom-Mitglied.
Dabei gibt es längst keine Mehrheit mehr für die zivile Nutzung
der Atomenergie. Von den sechs Gründungsländern ist nur Frankreich
noch uneingeschränkt
dabei. Luxemburg ist nie in die Atomwirtschaft eingestiegen, Italien
hat 1987 den Ausstieg vollzogen, die Niederlande, Deutschland und Belgien
lassen ihre AKWs auslaufen. Von den seither beigetretenen neun Ländern
haben fünf nie ein Atomkraftwerk gebaut, und Schweden bewegt sich
langsam in Richtung Stilllegung. Mit der Erweiterung von 2004 kommen
sechs nichtnukleare und vier nukleare dazu, sobald Litauen seine Anlage
Ignalina im Jahr 2006 als Beitrittsbedingung schließen muss. Von
den künftig 25 EU-Mitgliedern sehen sich 17 Nicht-Nuklearstaaten
auf die Förderung einer Technologie verpflichtet, von der sie sich
mit guten Gründen fern halten oder verabschiedet haben.
Der derzeit tagende Europäische Konvent ist also gut beraten, wenn
er mit einer neuen Verfassung den Euratom-Vertrag für beendet erklärt
und ihn ins Museum für gescheiterte Technik abschiebt. Dennoch
sollte ein Ende von Euratom kein Abschied von nuklearer Gemeinschaftspolitik
sein. Die grenzüberschreitenden Gefahren dieser Technologie verlangen
Gemeinsamkeit.
Bis heute verfügt die Europäische Union nicht über Sicherheitsvorschriften,
die für alle im Gemeinschaftsgebiet laufenden Atomanlagen gelten.
Euratom hat auch keine Haftungsfragen bei Nuklearunfällen geklärt.
Und gerade, wenn wir an der nationalen Pflicht zur Ausweisung nuklearer
Endlager festhalten und dadurch eine Verschiebung des Strahlenmülls
nach Russland oder Australien unterbinden wollen, brauchen wir eine
europäische nukleare Entsorgungskonvention, die alle Mitgliedsländer
auf minimale Regeln im Umgang mit radioaktiven Abfällen
verpflichtet.
Gerade für eine atomkritische Politik ist mehr europäische
Verantwortung und weniger nationalstaatliche Enge erforderlich - es
könnte dafür in der EU eine Mehrheit geben. Dass ausgerechnet
die der Nuklearlobby verbundene EU-Kommissarin Loyola de Palacio jetzt
Gemeinschaftsaktivitäten entfaltet hat, passt ins Bild. Denn sollte
ihr atompolitisches Programm in europäische Richtlinien umgesetzt
werden, wird es auch künftig keine gemeinsamen Sicherheitsvorschriften,
keine Standards für die Haftpflichtversicherung und erst recht
keine Konsequenzen aus den neuen terroristischen Gefahren geben. Zudem
drückt eine extrem enge Terminplanung für die Planung und
den Bau nuklearer Endlager auf das Sicherheitsniveau und schließt
ernst zu nehmende Bürgerbeteiligung aus.
Mit europäischer Verantwortung hat das alles wenig zu tun. Dennoch
ist das Programm in einem Punkt richtig und unterstützenswert:
Loyola de Palacio regt an, die finanziellen Rückstellungen, die
die Atomindustrie für
zukünftige Abbruch- und Entsorgungsaufgaben akkumuliert, in öffentlich
kontrollierte Fonds zu überführen. Innerhalb der europäischen
Großkonzerne wächst der Unmut etwa über die deutschen
Stromunternehmen und die Electricité de France, die diese meist
steuerfreien Gewinne in Wettbewerbsvorteile auf dem liberalisierten
Strommarkt ummünzen. In Deutschland selbst werden auf diese Weise
die Gelder als Sicherheiten für
Geschäfte eingesetzt, die zum Beispiel die kleineren Stadtwerke
niederkonkurrieren. Hier darf sich gerade eine rot-grüne Bundesregierung
nicht scheuen, diese unberechtigten Preisvorteile des Atomstroms zu
beseitigen. Im Übrigen wäre das umstrittene AKW Obrigheim
ohne die Rückstellungsprivilegien zu Jahresbeginn termingerecht
vom Netz gegangen.
Bisher versteht die EU-Kommission ihre Atompolitik als Gestaltung und
Absicherung eines Wirtschaftszweiges. Deswegen fällt sie in die
Zuständigkeit der Generaldirektion für Energie und Forschung,
die als industriefördernde Institution angelegt ist. Ihr Chef,
der Generaldirektor Lamoureux, wurde auf Druck der atomfreundlichen
französischen Regierung eingestellt. Die zuständige Kommissarin,
vor ihrem Wechsel nach Brüssel spanische Landwirtschaftsministerin,
ist ebenfalls vom pronuklearen Kurs ihrer Regierung geprägt. Ihren
Holzweg sollte der Europäische Konvent aber nun verlassen: Fragen
der Atompolitik sind vorrangig Umweltaufgaben und gehören in die
dafür zuständige Generaldirektion. Nur so ist zu vermeiden,
dass die EU bis zuletzt nach wirtschaftlichen Chancen für diese
Technologie sucht, statt das Elend der ökologischen Folgen in den
Mittelpunkt ihrer Betrachtung zu rücken.
Ein Grundanliegen aus der Entstehung des Euratom-Vertrags allerdings
gilt es zu bewahren: den Aufbau eines langfristigen und als zukunftsfähig
zu bezeichnenden Energiesystems. Der vollständige Verzicht auf
die nukleare
Option steht so schnell wie möglich an, das Ende der fossilen Energieumwandlung
binnen weniger Jahrzehnte auf der Tagesordnung. Europa wird seine Energiewirtschaft
vollständig auf erneuerbare Quellen umstellen
müssen. Die EU steht in der Verantwortung, hier für einen
frühzeitigen Wandel zu sorgen. Je schneller er kommt, desto besser.
"
HARTWIG BERGER
taz Nr. 6968 vom 31.1.2003, Seite 12,
235 Zeilen (Kommentar),
HARTWIG BERGER, taz-Debatte
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Hartwig Berger
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