Hartwig Berger, MdA Berlin, Berlin, 20.06.2001 Evaluation der Atomgesetz-Novelle der Bundesregierung aus Grüner Sicht Jede Einschätzung orientiert sich an Maßstäben. Ich
schlage vor, für unsere Debatte den Koalitionsvertrag(KOV) von
1998 zugrunde zu legen. Er ist nicht unser politisches Wunschziel, aber
ein geschlossener Kompromiss, dem unsere Partei seinerzeit zugestimmt
hat und der von den mit uns damals "verbündeten" Umweltverbänden
im Prinzip akzeptiert wurde. |
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I. |
Der KOV hatte eine erste Änderung des Atomgesetzes
(AtG ) binnen 100 Tagen vereinbart, die bekanntlich nicht realisiert worden
ist. Mit mehr als 2jähriger Verspätung können wir feststellen: |
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1. | Der Förderzweck wird gestrichen, er bleibt
allerdings für Forschungsreaktoren uneingeschränkt erhalten.
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2. | ( Zu §19a) Die "Verpflichtung zur Sicherheitsüberprüfung (PSÜ), vorzulegen binnen eines Jahres" wird mit erheblichen Abstrichen eingeführt. Da die PSÜ für alle KKWs unterschiedslos erst nach 10 Jahren erfolgen muss, ist sie für einzelne Reaktoren bis zu maximal 8 Jahren verschoben (Nach Anlage 4 findet sie, je nach KKW, von 2001 bis 2009 statt) Diese komfortable Frist kann um 3 Jahre verlängert werden, wenn eine Anlage innerhalb von 3 Jahren stillgelegt wird ( das wird z.Zt. am maroden KKW Stade praktiziert; die PSÜ war für 31.12. 2000 vorgesehen, sie entfällt mit der Zusicherung, die Anlage Ende 2003 zu schließen). Außerdem erfolgt die PSÜ weiter nach einem Leitfaden aus der CDU-Amtsperiode von Angela Merkel, einen Leitfaden, den Grüne Kritik immer für unzureichend gehalten hat. |
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3. | ( Zu § 17(5) und §19) Die "Klarstellung der Beweislast bei begründetem Gefahrenverdacht" ist nicht erfolgt. Die Betreiber können sich weiterhin erfolgreich gegen Stillegungsanordnungen zur Wehr setzen, die aufgrund besonderer Betriebsrisiken verhängt werden. |
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4. | Die "Beschränkung der Entsorgung auf die direkte Endlagerung" wird nur ungenügend umgesetzt. Transporte in WAAs sind noch bis zum 1.7. 2005 zulässig. Nach Betreiberangaben kann damit noch 15 Jahre lang Kernbrennstoff aus deutschen KKWs in La Hague und Sellafield verarbeitet werden. In Sellafield z.B. müsste die MOX-Herstellung aus wirtschaftlichen Gründen schließen, wenn die Transporte aus deutschen Anlagen beendet werden. |
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5. | Die "Aufhebung der Atomgesetznovelle von 1998",
ein von uns bekämpftes letztes Kuckucksei der atomfreundlichen Vorgängerregierung,
ist nur ungenügend erfolgt. Die Privatisierung der Endlager ist nach
§9a(3) weiterhin möglich. Die Veränderungssperre in §9g
wurde nicht gestrichen; damit bleiben andere Nutzungen am virtuellen Endlagerstandort
Gorleben weiterhin unterbunden ( sog. Lex Bernstorff). |
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5. | Die "Erhöhung der Deckungsvorsorge" erfolgt im Gesetz. Allerdings wird sie mit der sog. Solidarvereinbarung so gefasst, dass sie für die Betreiber finanziell ohne Auswirkungen bleibt. Im Ernstfall ist damit auch die Zahlungsfähigkeit mehr in Frage gestellt, als bei einer Versicherungslösung, die sich auf einen globalen Rückversicherungsmarkt stützen kann. | |
II. | Der zeitliche Rahmen für "Konsensgespräche"
mit den Atomkonzernen war auf 1 Jahr befristet, nach Ablauf der Frist
sollte die AtG-Novelle eingebracht werden. Diese Fristen wurden mit der
Konsensunterzeichnung am 11. Juni2001 und der Einbringung der AtG-Novelle
in den Bundestag voraussichtlich Herbst 2001 weit überzogen. Das
mag nicht weiter schlimm sein, wären nicht diese längeren Fristen
zu einer offensichtlich sehr erfolgreichen Einflussnahme der Atomkonzerne
auf die Gesetzes-Vorbereitung genutzt worden. Zu den o.g. Punkten will
ich daher hinzufügen: |
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6. | Die durchgängige Flexibilisierung der Laufzeiten, die eine Übertragung
von Strommengen zwischen KKWs ermöglicht, hat für die Betreiber
höchst vorteilhafte, für das Sicherheitsinteresse der Bevölkerung
durchaus nachteilige Folgen. Wenn ein Reaktor wegen schwerer Havarien
oder Sicherheitsmängel vom Netz genommen wird, verkürzt das
die Summe der Laufzeit aller Reaktoren nicht. Quasi zur "Belohnung"
darf die verbleibende Strommenge auf andere Reaktoren übertragen
werden. Eine absurde Konsequenz. Schafft es eine beunruhigte Bevölkerung,
die Schließung eines KKWs gerichtlich durchzusetzen, wird die Nachbarschaft
eines anderen KKWs mit um so längeren Laufzeiten "bestraft". Dieses Dilemma ist nur zu beheben, wenn die Flexibilisierung der Laufzeiten um eine Obergrenze der maximalen Laufzeit ergänzt wird. Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Bundesregierung das unterlassen hat. |
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7. | Der Nachweis einer schadlosen Verwertung ist in der AtG-Novelle deutlich
zurückgenommen auf eine einfache Verwertung. Eine WAA ist keine schadlose
Verwertung, wie sollte denn das gerechtfertigt werden! Im übrigen
wird nur eine Verwertung des Plutoniums aus der WAA gefordert, das reichlich
anfallende Uran bleibt ausgeklammert, hier ist nur der sichere Verbleib
gefordert. Noch bedenklicher ist, dass eine solche Regelung im Gesetz die internationale Plutoniumwirtschaft anheizt. Es besteht jetzt eine rechtliche Vorschrift, MOX-Brennelemente herzustellen und in Reaktoren einzusetzen! |
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8. | Die Einführung einer Pflicht zum Bau dezentraler Zwischenlager
erzeugt eine Unmenge von Problemen, die an den derzeit rege laufenden
Standortdebatten verfolgt werden können. Einmal hingenommen, dass
die Bundesregierung diese Zwischenlager durchsetzen will und damit vor
allem den Betreibern entgegenkommt, ist völlig unverständlich,
warum das Gesetz keine Kapazitätsbeschränkung dieser Lager festlegt.
Warum unterbindet das AtG nicht die jetzt zu beobachtende Praxis der Betreiber,
die Zwischenlager weit größer auszulegen und damit die von
ihnen gewollte Verlängerung der Laufzeiten in kommenden Legislaturperioden
bautechnisch vorwegzunehmen? |
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9. | Mit dem AtG wird es nicht Zukunft praktisch unmöglich sein, eine
Anlage aufgrund von Sicherheitsbedenken oder von politischen Druck aus
der Bevölkerung noch stillzulegen. Denn als "Zielsetzung"
des Gesetzes gilt nicht nur "die geordnete Beendigung der (gewerblichen)
Kernenergienutzung", sondern auch , dass "der geordnete Betrieb
der Kernkraftwerke sichergestellt bleibt". Damit die Hürde für
eine - m.E. mit dem Gesetz praktisch blockierte - Erhöhung der Sicherheitsregeln sehr hoch gelegt ist, bescheinigt die Präambel den deutschen Anlagen ein "international gesehen hohes Sicherheitsniveau". Ich möchte den/die Umweltminister/in sehen, die da künftig noch etwas sicherheitstechnisch durchsetzt. Zumal die unabsehbaren Risiken der Kernkraftnutzung in der Begründung der Gesetzesnovelle sehr zahm dargestellt werden. Die unbestreitbare Tatsache, dass es eine ökologisch verantwortbare Entsorgung nicht gibt, wird dabei nicht genannt. Die schriftlich fixierte Begründung einer Gesetzesnovelle ist aber bei Rechtsstreitigkeiten durchaus relevant. Es ist daher nötig, die wirklichen Gründe einer Beendigung der Kernkraftnutzung ausdrücklich zu benennen: Das nicht beherrschbare Risiko eines SuperGAUs und die weitere Herstellung von Strahlenmüll, dessen verantwortbare Entsorgung eben nicht zu lösen ist. |
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III. | Ein schwerer demokratiepolitischer Geburtsfehler der AtG-Novelle ist, dass der Text bis in alle Einzelheiten von den Atomkonzernen mitbestimmt und mitgestaltet worden ist. Mit der vielbeschworenen Unabhängigkeit eines Gesetzgebungsverfahrens ist das nicht zu vereinbaren. Noch dazu bei einem gesellschaftspolitisch höchst brisanten Konfliktstoff, indem die Gegenseite der Atomkraft-KritikerInnen aus der Vorbereitung der Gesetzesnovelle völlig ausgeschlossen blieb. Man mag das sprachlich "Umsetzung des Atomkonsenses in Gesetzesform" nennen; Mit einer gesellschaftlichen Konsensbildung hat es überhaupt nichts zu tun. | |
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IV | Als Denkanstoß füge ich dokumentierte Bewertungen des Atomkonsens durch die Chefs der Atomindustrie an. Sicher haben auch sie die Neigung von PolitikerInnen, Verhandlungsergebnisse als eigene Erfolge hochzuloben und abzufeiern. Dennoch zeigen ihre Äußerungen, dass die Atomindustrie glänzend mit einer Umsetzung der Gesetzesnovelle leben könnte. | |
Majewski, Vorstandsvorsitzender der E.ON: Maichel, Vorsitzender der RWE, Präsident des Atomforums: Hartwig Berger
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